Wenn die Liesel mit dem Rehkitz

[nach einer Grundidee von meiner Freundin Claudia – danke!]

Ratter, ratter, brumm, brumm, schnurr, schnurr… es wird ziemlich laut zum
frühen Morgen in der Nähe des Nestes unserer Wespen.
„Heee, was ist denn da los?“ Leo fällt beinahe aus seinem Bettchen. „Das
ist ja wohl die Höhe!!“, beschwert er sich.
Auch seinen Schwestern und der Mama und überhaupt allen unter dem alten Dach in
dem alten Haus geht es nicht anders. Sie alle wurden aus dem Schlaf gerissen.
Mama Wespe zieht sich ihr Morgen-Mäntelchen über und knotet den kleinen Gürtel
straff. „Was soll das denn?“ Sie schaut aus dem Fenster und wundert sich.
„Kannst du etwas erkennen?“, fragt
Liesel neugierig. Noch etwas müde reibt sie sich den Schlaf aus den Äugelein
und gähnt.
„Nee, ich kann nichts sehen.“, sagt die Mama und zuckt mit den Flügeln.
„Vielleicht zieht wieder jemand ein?“, erinnert sich Leo.
„Hmm, möglich wäre es“, antwortet die Mama und läuft zur Tür, um
nachzuschauen, ob sich draußen etwas tut.
„Und? Ist da jemand?“, fragt Leo aus sicherer Entfernung. Er ist nun auch
aufgestanden, an Schlaf ist bei diesem Geratter sowieso nicht mehr zu denken.
„Also soviel ist sicher, von hier kommt der Lärm nicht!“, stellt Mama Wespe
fest, schließt die Tür und die ganze Familie setzt sich an den Küchentisch.

Kurz darauf klatscht Liesel mit einer Hand auf den Tisch, steht auf und sagt:
„Wisst ihr was?“ Die anderen schauten sie verdutzt und fragend an. „Wir
gucken jetzt, wo das herkommt!“, sagt sie weiter.
„Ja, und dann? Wollen wir die pieksen, damit der Lärm aufhört?“, erwidert
Leo keck und macht mit seinem Fingerchen kleine Pieks-Bewegungen. Lotti ist sehr
amüsiert und kichert.
„Ich meine es ernst!“, setzt Liesel ihren Satz fort und sieht ihre
Geschwister empört an, woraufhin Mama Wespe spricht: „Okay. Ihr seht nach, was
da los ist, und ich mache inzwischen Frühstück“.
Sie schickt ihre Kinder los – auf Erkundungsflug.

Als sie losfliegen wollen, kommt Emil aus seinem Nest. „Wo wollt ihr so zeitig
hin?“, fragt er neugierig, und mit „Mann, Mann, Mann, das ist vielleicht ein
Krach!“ setzt er seinen Satz gähnend fort.
„Ja, und wegen des Lärms wollen wir gucken, was da los ist.“, sagt Liesel.
„Ooohhh, darf ich mit?“ Emil möchte unbedingt dabei sein.
„Klar, komm‘ mit. Je mehr wir sind, umso besser! Wer weiß, wofür es gut
ist?!“, findet Leo.
Emil gibt nur schnell seiner Mama Bescheid und dann fliegen die vier los.

Nach einer kurzen Weile des Fliegens sehen sie ein Feld. Wunderschön mit hohem
Getreide. Und da fährt auch der Grund des Lärms: ein Mähdrescher rattert und
knattert über‘s Feld. Er macht wirklich einen ohrenbetäubenden Lärm,
zumindest für Wespen.
„Ach daaas…“, Leo winkt gelangweilt ab. „Hätte ich das gewusst, wäre
ich im Bett geblieben!“. Er macht eine Kehrtwende und plötzlich springt ein
großes Reh aus dem Feld. Es schaut sich ängstlich um und Leo versteht nicht,
was das nun wieder zu bedeuten hat. Die anderen Wespenkinder haben das Reh auch
gesehen und fliegen zu ihm hin.

„Was ist denn los??“, fragt Liesel das Reh. Die anderen schwirren um Liesel
herum.
„Ich, ich… ich habe dort im Feld mein kleines Baby liegen. Zum Schutz im
hohen Gras, wisst ihr?! Aber nun kommt dieses Ding da…“. Die Reh-Mama ist
richtig verzweifelt. „Was mache ich denn bloß?“ Zurück kann sie nicht mehr,
der Mähdrescher ist zu nahe und würde auch ihr gefährlich werden.

Da ergreifen die vier Wespenkinder wie auf Verabredung die Initiative: sie suchen
nach dem Rehkitz und finden es auch gleich. Es liegt ganz ruhig im Feld und atmet
leise. Es hat kleine weiße Tupfen an seinem Rücken. Ein wirklich hübscher
kleiner Kerl.

„Und nun? Wie weiter?“, fragt Lotti und Liesel beginnt, ein Spektakel vor dem
Kitz aufzuführen, das es in sich hat. Die anderen verstehen augenblicklich, was
sie vorhat. Sie können auch nicht viel reden, denn die Gefahr nähert sich
unerbittlich. Außerdem ist es viel zu laut. Also veranstalten sie alle ein
riesengroßes Theater. Sie wollen das Kitz hochscheuchen, damit es davonläuft.
Aber das nützt nichts. Es bleibt liegen. Ganz unbeeindruckt von der
Theater-Darbietung der kleinen Wespen. Aber warum klappt das nicht?

Das Kitz weiß, dass es sich ganz ruhig verhalten muss, damit es zu seinem
eigenen Schutz nicht gefunden wird. Erst, wenn die Mama zurückkommt, kann es
aufstehen und mit ihr weggehen. Und das macht es auch. Genau wie die Mama es ihm
gesagt hat.

„Mann, du kleiner Mann, du musst weg von hier!“, schreit Emil das Rehkitz an,
aber es versteht nicht, was das soll.
„Neeein, ich bleibe hier. Ich warte auf die Mama!!“, sagt es und kringelt
sich wieder ein.
„Och, das gibt es doch nicht! Jemand, der noch sturer ist als ich…“,
beschwert sich Leo. Normalerweise würden seine Schwestern nun kichern, aber die
Lage ist ernst. Sehr ernst.

„So, jetzt aber!“ – im Sturzflug verpasst Liesel dem Kitz einen Stich. Ja,
Liesel hat zugestochen. Aber nur, um es zu retten. Und der Plan geht auf, denn
das Kitz springt vor Schreck auf und saust und hüpft über das Gras und zum
Glück in Richtung Mama.

„Mamaaa Reeeh! Dein Kind kommt!!“, ruft Lotti und ist mächtig stolz, dass
sie es geschafft haben, das Rehkitz aus dieser gefährlichen Lage zu befreien.
Die vier Wespenkinder klatschen sich freudestrahlend gegenseitig auf die
Handflächen. „Hach, das wäre geschafft!“, freut sich Liesel.

„Maaamaaa!“, ruft nun auch das Kitz und findet sogleich seine Mama. „Die da
haben mich gepiekst!! Das tut dolle weh am Pops“. Dabei zeigt es mit seinem
Köpfchen empört in Richtung der Wespen.
Die Reh-Mama freut sich sehr, dass ihr Kind da ist und gibt ihm ein Küsschen auf
die kleine Nase und eines auf den Pieks. „Es wird rasch heile werden“,
beruhigt die Mama ihr Kind. „Lieber so ein Pieks, als…“, sie sagt nichts
weiter, sondern streift ihren Kopf besonders lieb über ihr Kind. „Ich habe
dich sehr lieb!“, sagt sie.
Plötzlich wendet sie sich den Wespen zu: „Ach, ich habe mich noch gar nicht
bei euch bedankt.“, sagt sie zu den vier Wespen, die sich vor lauter Rührung
ein Tränchen in ihren Äugelein verkneifen. „Vielen Dank für eure Hilfe. Das
war toll! Ihr seid toll!“
„Das haben wir doch sehr gerne gemacht! Ehrensache für uns“, grinst Leo und
fühlt sich gleich wie ein kleiner Held.

Mit einem eleganten Kopfnicken verabschiedet sich die Reh-Mama von den Wespen und
springt mit ihrem Kind in den sicheren naheliegenden Wald.

Die Wespenkinder winken noch und dann stellt Emil fest: „Na das war ja ein
Ding! Wären wir nicht dagewesen… oh je…“.
Lotti mochte sich nicht ausdenken, was sonst womöglich passiert wäre.
„Aber es war ja gut, dass wir losgeflogen sind. Das war zwar knapp, aaaaber wir
haben es geschafft. Gemeinsam. Und ein Theater haben wir aufgeführt. Das war
schon sehr cool!“ – Liesel ist noch immer ganz begeistert von ihrer geglückten
Aktion.

In diesem Moment meldet sich das Bäuchlein von Leo. „Oh, wir sollten nach
Hause fliegen! Das Frühstück ist bestimmt schon lange fertig. Ich habe Hunger,
Leute! Einen Bärenhunger!!“
Seine Schwestern und auch Emil müssen darüber lachen und alle fliegen gemeinsam
nach Hause.

Emils Mama ist inzwischen zur Mama von den anderen drei Wespenkindern gegangen
und alle Wespen können nun gemeinsam frühstücken. Die Kinder erzählen, woher
der Lärm kommt, der aber nun plötzlich nicht mehr so stört, und dass sie ein
Rehkitz gerettet haben. Schon zum frühen Morgen haben sie eine gute Tat
vollbracht und das macht sie sehr glücklich und zufrieden – und die Mamas sind
stolz auf ihre Kinder.
„Was werden die Rehe jetzt wohl machen?“, wollte Leo von seiner Mama wissen.
„Bestimmt auch frühstücken. Das war ja auch aufregend für sie. Die Reh-Mama
wird es euch das nie vergessen.“, antwortet seine Mama. „Das habt ihr
wirklich toll gemacht! Ich bin sehr stolz auf euch. Trotz des Piekses!“ Sie
zwinkert ihrer Liesel zu.
„Jaaa, aber der war ja für einen guten Zweck! Da darf man das!“ sagt Liesel
und nimmt sich noch ein Stückchen Hackepeter. „Der ist vielleicht lecker…
hmmm.“ – und biss vergnüglich hinein. Den haben sie sich heute mehr als
verdient.

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