So weit ist das Meer…
Begegnung in der Nacht
Amalia verbringt die meiste Zeit ihres Aufenthaltes in ihrer Suite. Sie benötigt Zeit und Ruhe, die Ereignisse der letzten Tage zu verarbeiten. Sie weiß, dass diese Reise dafür nicht ausreicht, vielleicht braucht sie Monate, um wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können. Ohne schlaflose oder von Alpträumen gebeutelte Nächte, aus denen sie schweißgebadet aufwacht. Hätte sie wirklich nichts gegen das Unglück tun können?, wirft sie sich stets vor. Aber sie hätte nichts dagegen tun können. Was kann man auch gegen Habgier und Bosheit der Anderen tun?
In einer dieser schlaflosen Nächte kann sie die gefühlte Enge ihrer sehr großzügigen Suite nicht ertragen. Sie steht auf, zieht sich ihren Morgenmantel an und begibt sich auf ihren Balkon. Das Motorengeräusch ist das einzige, das sie hört. Am Firmament sitzen die Sterne wie kleine Diamanten und funkeln auf die Erde hernieder. Der Mond scheint so klar, dass er sich auf dem Meer spiegelt. Nur der Wellengang bewegt sein Abbild.
Seufzend lehnt sich Amalia mit dem Rücken angelehnt an die Reling und blickt zum darüber liegenden Deck. Sie bemerkt, dass dort noch Licht brennt und der Passagier offenbar auch unter Schlaflosigkeit leidet. Mit einem Lächeln sind ihre düsteren Gedanken wie weggefegt. Amalia dreht sich um und blickt gedankenverloren auf das Meer. Die See liegt ruhig vor ihr, nur das Schiff sorgt für Wellengang.
„Können Sie auch nicht schlafen?“, fragt eine ihr bekannte Stimme. Amalia dreht sich erschrocken um und schaut auf das obere Deck.
„Carsten? Sind Sie es?“, fragt sie vorsichtig.
„Ja“, er winkt ihr zu. „Wir haben uns doch eine Weile nicht gesehen“, setzt er fort. „Ich hätte nicht gedacht, dass man sich so aus dem Weg gehen kann“.
„Das hätte ich auch nicht geglaubt… und ja, ich kann in der Tat nicht schlafen“, antwortet Amalia und schmunzelt.
„Wollen Sie es noch mal mit dem Schlafen versuchen oder kann ich Sie in meine kleine Kabine auf einen Nachtdrink einladen?“, fragt Carsten mutig.
Diese Frage kommt für Amalia überraschend. Soll sie ablehnen? Aber außer schlaflos im Bett zu liegen oder allein auf dem Balkon zu sein, wird diese Nacht sonst nichts bieten. Noch bevor sie antworten kann, eröffnet ihr Carsten: „Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin harmlos. Ehrenwort!“ In der Dunkelheit ist sein verschmitztes Lächeln nur zu erahnen.
„Ein bisschen Zerstreuung tut mir sicher gut“, antwortet Amalia. „Ich ziehe mir nur etwas über und dann komme ich hoch“.
„Schön. Bis gleich“, erwidert Carsten.
Wenige Minuten später klopft Amalia leise an Carstens Kabinentür. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Sie kommt sich wie eine Ehebrecherin vor. ‚Aber warum? Ich bin Witwe. Und außerdem wollen wir nur etwas trinken‘, weist sie sich kopfschüttelnd zurecht.
Carsten öffnet die Tür. „Hereinspaziert!“ Mit einer einladenden Armbewegung untermalt er seine Aufforderung.
„Dankeschön“, erwidert Amalia. Sie schaut sich um und bemerkt, dass diese Kabine kleiner ist als ihre.
„Was kann ich Ihnen aus meiner Minibar anbieten?“ Carsten öffnet diese und liest aus dem Angebot vor.
„Etwas Leichtes, aber keinen Softdrink, wenn möglich“.
„Okay. Dann nehmen wir das…“ und hält eine kleine Sektflasche in der Hand.
Beide begeben sich auf den Balkon.
„Ich nehme an, Ihre Kabine ein wenig größer und luxuriöser als meine“, möchte Carsten von Amalia wissen, während er ihr den Sekt in ein Glas schenkt und überreicht.
„Naja, ein bisschen schon, aber letztlich wollen wir das Schiff ja nur als besseres Transportmittel nutzen“, entgegnet sie und prostet Carsten lächelnd zu.
Dieser erwidert die Geste und antwortet schmunzelnd „Ja, das ist richtig.“
„Wobei, wenn ich es recht bedenke, ein bisschen Luxus ist schon schön“, antwortet Amalia und nimmt einen Schluck aus ihrem Sektglas.
„Sind Sie Luxus gewöhnt?“, fragt Carsten, jedoch bleibt Amalia ihm eine Antwort schuldig. Aber in ihren Gedanken beantwortet sie die Frage mit ‚ja, ich bin ein Luxusweibchen und übrigens habe ich äußerst wertvollen Schmuck und reichlich Bargeld in meiner Suite…‘. Sie erschrickt etwas über ihre sarkastische Art, atmet tief durch und schaut zu Carsten.
„Nun, ich habe ein sehr angenehmes Leben geführt“, antwortet sie schließlich und Carsten nickt mit einem leisen „Okay“.
„Wollen Sie mir nicht verraten, was der Grund Ihrer Reise ist, Carsten? Und wo Sie aussteigen werden?“, möchte Amalia wissen.
Carsten holt tief Luft und stellt sein Sektglas ab. „Ach wissen Sie, ich besuche meine Verwandtschaft in Schweden. Ich hätte auch fliegen können, da wäre ich schneller dagewesen, aber…“ – er unterbricht seinen Satz und Amalia schaut ihn an. „…aber dann wäre mir etwas Wesentliches auf meiner Reise entgangen…“. Carsten schaut auf das Meer, um Amalias Blick zu entgehen. Wissend um den Grund lächelt sie und nippt abermals an ihrem Glas.
„Es ist schön hier“, unterbricht sie das angenehme Schweigen. „Ich fühle mich wohl bei und mit Ihnen. Dabei kenne ich Sie gar nicht. Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie so machen, wenn Sie nicht gerade reisen.“
„Okay. Was möchten Sie wissen? Ich kann Ihnen bestimmt alles verraten“, Carsten nimmt seinen Balkonstuhl und setzt sich näher an Amalia heran.
Nach einer kurzen Pause fragt er: „Möchten Sie wissen, ob ich verheiratet bin?“. Mit leicht zugekniffenen Augen bohrt sich sein eindringlicher Blick in ihre Augen, ihr Puls wird schlagartig schneller.
„Und? Sind Sie‘s?“, fragt Amalia mit festem Blick, wobei sie sich unsicher ist, ob sie die Antwort, ganz gleich welche, hören möchte. Ein leises Knistern liegt in der Luft.
„Ich bin Schwede und geschieden. Und ich habe zwei Kinder. Mädchen. Sie sind meine Augensterne. Mein ganzes Glück.“ Tränen stehen plötzlich in seinen Augen. Er vermisst seine Mädchen.
„Das tut mir sehr leid. Ich wollte nicht…“, vorsichtig berührt sie Carstens Arm.
„Ist schon in Ordnung“, antwortet er.
„Und die Kinder leben in Riga?“, wollte Amalia wissen.
„Ja, ich habe mich quasi von einer Einheimischen verschleppen lassen“, antwortet er schmunzelnd mit seinen beiden Zeige- und Mittelfingern mit der Geste der Anführungszeichen.
„Ahhh, so ist das. Najaaa, vor den Rigaerinnen muss man sich in Acht nehmen…“, wobei Amalias Kopf ein bisschen wippt.
„Nun sind Sie dran! Was macht so eine aparte Frau wie Sie allein auf solch einem Schiff? Und sagen Sie nicht, dass Sie Urlaub machen!“ Carstens milder Blick lässt sie fragen: „Warum nicht?“
„Weil ich Sie gesehen habe, als Sie ohne großes Gepäck an Bord gingen. Nach großer Reise sieht das nicht aus. Zumindest nicht für mich. Und Frauen benötigen ja oft deutlich mehr an Gepäck als ein Mann, wenn ich das richtig in Erinnerung habe…“, gibt er verlegen schmunzelnd zu bedenken.
Ertappt von dieser Tatsache erzählt Amalia, dass sie frisch verwitwet sei. Erstaunt bekundet Carsten sein aufrichtiges Mitgefühl.
„Ich habe leider keine Kinder. Das war uns nicht vergönnt. Irgendwann habe ich mich damit abgefunden und so habe ich mir mein – oder wir unser – Leben ohne Kinder schön gestaltet. Ich tröste mich mit der Tatsache, dass ich niemals Angst um meinen Nachwuchs haben muss. Das stelle ich mir schrecklich vor.“ Mit beiden Händen hält sie locker ihr Glas und schaut Carsten an.
Dieser hört aufmerksam zu und bestätigt, dass das natürlich nicht von der Hand zu weisen ist. „Trotzdem, wie alt sind Sie? Sie können doch noch Kinder haben. Was steht dem entgegen?“ Carsten blickt Amalia fragend an. „Es sei denn, Sie können nicht…“.
„Das weiß ich nicht“. Amalia schaut zu Boden. „Wir haben uns nicht testen lassen. Wir wollten uns wohl gegenseitig das Ergebnis oder, wie es mein Mann so schön formulierte, die Schmach der Unfruchtbarkeit ersparen“ Amalia holt tief Luft.
„Verstehe…“, aber eigentlich verstand er es nicht. ‚Warum Schmach? Macht es einen Umstand weniger sichtbar, wenn man ihn unter den Teppich kehrt?‘, fragt er sich. Aber er möchte diese Gedanken nicht äußern, um Amalia nicht zu verärgern.
„Auch wenn ich mich hier wohlfühle, so bei Ihnen, sollte ich jetzt doch wieder in mein Bett gehen.“ Amalia steht auf und möchte gehen, als ihr Carsten sanft über ihren Haaransatz streicht. „Passen Sie auf sich auf!“, ohne zu wissen, dass diese Worte ihre besondere Bedeutung für Amalia haben. Schließlich musste sie ihre Heimat verlassen. ‚Weiß er etwas?‘, fragt sie sich automatisch. Mit einem Kopfschütteln versucht sie, ihre Gedanken loszuwerden.
„Gute Nacht, Carsten“.
„Schlafen Sie gut, Anna. Wir sehen uns vielleicht morgen?“, fragt er hoffnungsvoll.
Etwas erschrocken über diesen Namen fiel Amalia wieder ein, dass sie bei ihrer ersten Begegnung aus Vorsicht einen anderen Namen gewählt hat. Dieses kleine Geheimnis behielt sie auch an diesem Abend für sich und antwortet: „Das würde mich sehr freuen“, Amalia lächelt freundlich und reicht ihm die Hand.
„Es liegt ja an uns, ob und wie wir uns begegnen“, entgegnet Carsten und bringt Amalia zur Tür.
„Das ist richtig… – also dann…“, mit einem guten Gefühl geht Amalia in ihre Suite, und kein Gedanke mehr verschwendet sie in den verbleibenden Nachtstunden an ihre tragische Geschichte.