[nach einer Grundidee von Katja mit Tamara und ihrer Familie – danke!]
Manche Verwandtschaft wohnt ganz schön weit weg, gerade, wenn die Familie so groß ist wie die von unserer kleinen Heldin Liesel.
Mama hat etliche Geschwister und eine Schwester wohnt sogar in Österreich. In den Bergen. Aber auch diese Tanten und Cousinen und Cousins wollen mal besucht werden. Nun kann man als kleine Wespe nicht eben mal so in die weite Welt hinaus fliegen und die Tante Lucie besuchen. Das bedarf einiger Vorbereitung. Da braucht man Flugtraining und kräftige Flügel.
„Darf ich mit???“, fragten Leo und Lotti durcheinander. „Büüüüdddeee“, betteln sie – auch durcheinander.
„Diesmal fliegt Liesel allein“, sagte daraufhin ihre Mama. „Das ist viel zu weit und ihr seid noch zu klein. Wenn irgendwas passiert… – nicht auszudenken. Nein, nein!!“, setzte die Mama ihren Satz fort.
„Och, immer die Liesel“. Die beiden waren sehr traurig. So eine tolle Reise und was man alles erleben könnte…
„Aber vielleicht hat die Mama ja auch recht“, sagte Lotti schließlich. „Sie meint es ja nur gut“.
„Aber wenn Liesel etwas passiert, ist niemand da, der ihr helfen kann“, fing Leo an und war noch immer traurig und nicht überzeugt, dass er nicht mitdarf.
„Hmmm, da ist was dran“, erwiderte Lotti und überlegte kurz. Plötzlich sauste sie aus ihrem Zimmerchen und zur Mama. Leo sauste hinterher.
„Was hast du vor?“, fragte er nebenbei seine Schwester.
„Ich werde der Mama genau das sagen“, antwortete Lotti bestimmt.
„Was willst du sagen?“. Leo verstand gerade nichts mehr.
„Mann, Leo, du hast doch gerade gesagt, dass Liesel uns braucht?! Und das werde ich der Mama sagen“. Lotti hebte keck ihr Köpfchen und war sich sicher, dass das schon klappt.
„Au fein“, freute sich der kleine Bruder und war sich genauso gewiss, dass Mama einlenkt.
„Nein, nein, nein“, sagte die Mama und schüttelte mit ihrem Köpfchen und verschränkte ihre Ärmchen vor ihrer Brust. „Das kommt gar nicht infrage. Liesel muss auf sich achtgeben. Sie kann nicht auf euch aufpassen. Und ich weiß ja, wie ihr manchmal herumschusselt. Alle beide!“ Sie erhob dabei ihren Zeigefinger. „Vielleicht nächstes Jahr. Dieses Jahr ist das viel zu gefährlich!“ Mama war also nicht weichzukriegen. Zumindest nicht für dieses Jahr.
„Tut mir leid“, sagte Liesel und es tat ihr wirklich leid. Einerseits war sie stolz, dass die Mama so viel Vertrauen in sie setzte. Andererseits war sie so weit noch nie allein unterwegs gewesen. Aber es nützte alles nichts.
So verabschiedete sie sich von ihrer Familie und lunschte auch noch mal kurz bei Emil rein.
„Mach‘s gut“, sagte er traurig und winkte mit einem kleinen weißen Taschentüchlein hinter Liesel her.
„Weinst du etwa?“, fragte Lotti.
„Nee, wie kommst du denn darauf?“. Emil drehte sich um und schlürfte zurück in sein Zimmerchen.
Lotti und Leo standen verdutzt da. So hatten sie Emil noch nicht gesehen. Aber das war vollkommen in Ordnung. Man darf schon beim Tschüss-sagen ein Tränchen vergießen.
Alle hatten der Liesel gewunken und ihr eine gute Reise gewünscht.
„Pass‘ gut auf dich auf und mache immer wieder mal eine Pause, meine Große. Du hast Zeit, du musst nicht eilen“, hatte die Mama noch gesagt und dann ging es los.
Glücklicherweise lässt sich Liesel ja nicht so leicht ablenken. Auch auf ihrem Flug begegneten ihr viele lecker duftenden Wiesen und von den mit allerlei Köstlichkeiten gedeckten Gartentischen wollen wir gar nicht reden. Normalerweise würde das keine kleine Wespe links liegen lassen. Aber Liesel kann das, auch wenn es manchmal schwerfällt.
„Neiiin“, sagte sich die Liesel und flog weiter. Aber irgendwann hat natürlich auch eine Wespe Hunger und Durst und außerdem wird sie müde.
Sie flog also auf eine Blume und naschte. Allmählich wurde es dunkel. Wespen können ja bei Nacht nicht fliegen. So musste sich Liesel eine ruhige Ecke zum Übernachten suchen. In der Krone eines Baumes wurde sie fündig und kuschelte sich ins Geäst ein. Sie war völlig fertig und auch ein bisschen stolz auf sich, dass sie es schon so weit geschafft hatte. Aber wie weit es noch war, wusste sie nicht mehr.
Die Nacht kam über sie und Liesel schloss ihre Äugelein.
„Piiep, piep“, flötete es auf einmal. „Tschilp, tschilp“ antwortete es aus einer anderen Ecke des großen Baumes.
Liesel öffnete ihre Äugelein und blinzelte zur Sonne. ‚Oh je, ich glaube, ich habe verschlafen‘, stellte sie plötzlich fest. Die Sonne stand nicht mehr sehr tief, sondern schon ziemlich hoch.
„Hey, wer bist du denn? Tschilp…“, zwitscherte ein kleiner Vogel vor unserer Liesel.
„Ich bin die Liesel und fliege zu meiner Tante nach Österreich, in die Berge. Ich weiß gar nicht, wie weit das noch ist“, antwortete Liesel.
„Du bist fast da“, sagte der kleine Vogel und zeigte Liesel mit seinem Flügel die Berge, die plötzlich zum Greifen nah schienen.
„Komisch, die habe ich gestern gar nicht mehr gesehen“, wunderte sich Liesel. Sie war wohl gestern zu müde, um überhaupt noch irgendwas zu sehen. Sie musste sich schließlich um ihr Nachtlager kümmern. Da kann man schon mal große Berge übersehen.
„Ohhh fein“, freute sich Liesel und war plötzlich putzmunter. „Da wird Tante Lucie aber Augen machen“.
Sie hielt sich nicht lange auf und machte sich auf den Weg zur Tante. Es war ja nicht mehr weit.
„Tschüss, kleine Wespe, und pass‘ auf dich auf!“, rief der kleine Vogel noch hinter ihr her, aber das hörte sie schon nicht mehr.
„Ich muss etwas trinken“, stellte Liesel fest und sah einen kleinen Gebirgssee. Nun wissen wir ja, dass Wespen, wie die meisten Insekten, quasi im Flug ihre Flüssigkeit aufnehmen müssen. Sie waren ja nicht in der Schwimmschule und so würden sie sonst ertrinken.
Also setzte unsere Liesel an – und plumpste auf‘s Wasser.
„Auweia“, jammerte sie. „Das ist gar nicht gut“. Sie wusste, was das bedeutete und augenblicklich musste sie an die Mama denken. Und an ihre Geschwister. Sie konnte nicht mal weinen, der Schreck saß ihr in den Beinchen. Sie paddelte, aber es war vergeblich. Ihre Flügel waren zu nass. Und außerdem kann sie nicht aus dem Wasser starten. Es war hoffnungslos.
„Mama??!!!“, hörte sie plötzlich aus der Ferne eine Menschenstimme. Oben auf der Brücke konnte sie vier Zweibeiner erkennen.
„Mama, guck mal, da unten im Wasser. Eine kleine Wespe. Die müssen wir retten!“. Und als wäre es das normalste auf der Welt – vielleicht ist es das ja auch – sauste ein kleines Mädchen mit ihrer kleinen hübschen Familie zur Liesel und mit einem Schwupp holten sie die kleine Wespe aus dem Wasser. Das war knapp. Sehr knapp, um ehrlich zu sein. Nur noch ein bisschen und unsere Liesel wäre mit dem nahenden Wasserfall untergegangen.
Liesel konnte gar nicht mehr nachdenken, so erschöpft war sie. Aber allmählich konnte sie sich auf dem Fingerchen des kleinen Mädchens erholen und ihre nassen Flügel trocknen.
„Dankeschön“, blinzelte Liesel dem kleinen Mädchen entgehen, das sie glücklich anlächelte. Auch das Mädchen war sehr froh, dass sie die kleine Liesel retten konnten.
Menschen verstehen ja kein Wespisch, aber Liesel weiß, dass es sehr liebe Zweibeiner gibt und ihnen aus so mancher misslicher Lage helfen.
Nach einiger Zeit konnte Liesel ihre Reise fortsetzen und kam glücklich, aber etwas aus der Puste, bei ihrer Tante Lucie an. Und sie freute sich sich sehr über ihre Nichte, die ihr auch augenblicklich erzählte, was gerade passiert war. Im Moment der Hoffnungslosigkeit kam ein kleines Mädchen und rettete unserer Liesel das Leben. Und das ist einfach großartig. Das fand auch Tante Lucie und umarmte Liesel ganz besonders doll. Beinahe hätten sie sich nicht mehr gehabt.
Liesel dachte noch lange daran und an die kleine freundliche Familie und mit dem Gedanken an die kleine Tamara schlief sie selig ein. Und Tante Lucie deckte sie mit einem großen Blatt zu. „Erhol‘ dich gut, meine Kleine, und später zeige ich dir meine kleine Welt in den Bergen“. Lucie streichelte Liesel über das Köpfchen und schloss leise die Tür.
Die Geschichte – Liesel und die Zweibeiner mit großem Herz – als .pdf downloaden.