Gefangen in der Mülltonne

Wenn die Tage kürzer werden, verkriechen sich die Zweibeiner gerne in ihre Nester. Von reichlich gedeckten Tischen auf den Balkonen oder in den Gärten ist da nicht mehr viel zu sehen. Auch die Blumen verlieren allmählich ihre Kraft und welken dahin. So wird es mit der Futtersuche nicht gerade einfacher. Aber pfiffige Wespen und auch andere Insektlein sind schon längst dahintergekommen: die Zweibeiner schmeißen viel weg, weil es entweder nicht mehr gut ist oder doch nicht schmeckt. Das ist natürlich sehr schade, aber unsere gestreiften Helden gehören ja zur schlauen Truppe und Nahrung von Menschen finden sie ja immer einfach toll – und sei es die auf dem Müll.

„Liesel, wir wollen heute mal etwas machen, was wir noch niiiie gemacht haben. Ich weiß nämlich, wo wir Leckereien herkriegen. Und da stört uns bestimmt kein Zweibeiner. Das wird meeeegaaaa!!!“ Leo freut sich über seine Idee, die eigentlich gar nicht seine ist. Liesel hingegen ahnt, dass das nicht unbedingt etwas Gutes zu bedeuten hat. Sie kennt ja ihren kleinen Bruder und seine Flausen.

Nur kurz darauf ruft Leo: „Tschüssi“ und schiebt seine Schwester Lotti zum Nest hinaus. Natürlich findet eine solche Unternehmung nicht ohne Emil statt. Doch bevor sie starten können, eilt Leos Mama herbei: „Kinder, wo wollt ihr denn hin?“, fragt sie und Leo zuckt mit den Schultern. Eigentlich wollen die Wespenkinder ja gar nicht verraten, was sie vorhaben. Aber die Mama möchte es genau wissen: „Lotti, was habt ihr vor?“, fragt sie nun ein bisschen strenger. „Naja, wir wollen…“ Lottis Stimme versagt, als sie zu Leo hinschaut, der wiederum hinter seiner Mama steht und Lotti mit einem Kopfschütteln unmissverständlich klar macht: verrate uns bloß nicht! Lotti möchte es sich nun nicht mit ihrem Bruder verscherzen und als sie wieder zur Mama schaut, findet Lotti eine Ausrede: „…mal gucken, was es noch so gibt und wo wir etwas Leckeres zu essen finden.“. „Habt ihr eure Schularbeiten schon gemacht und das Ränzlein gepackt?“, fragt die Mama weiter. „Ist es gefährlich, was ihr machen wollt?“ Sie dreht sich zu Leo um und sieht ihn fragend an. „Nee, das ist doch nicht gefährlich. Und die Schularbeiten machen wir dann. Wir sind auch gleich wieder da. Ganz bestimmt…“ – nach einer kurzen Gedankenpause zieht Lotti ihre Liesel zu sich und sagt: „… und was soll uns schon groß passieren? Die Liesel kommt doch mit! Nicht wahr, Liesel?“. Ein bisschen überrannt kann Liesel gar nichts sagen, stattdessen antwortet die Mama: „Na gut, meinetwegen. Liesel, du passt auf die drei auf und ihr kommt rasch zurück!“

„Leo, wo wollen wir denn hin?“ möchte Liesel unterwegs gerne wissen. „Warte es ab, wir sind gleich da“ – und als sie angekommen sind, sagt Leo freudestrahlend: „Taaattaaa!! Wir sind da!“ und zeigt auf eine Mülltonne. „Daaa gibt es etwas für uns zu essen? Wie kommst du denn darauf?“, wollte Liesel wissen. „In der Schule auf dem Pausenhof haben sie davon erzählt. Ich fand das sehr cool!“, antwortet Leo. „… und außerdem gibt es weit und breit nichts so Leckeres mehr zu futtern. Das hier ist mal etwas Neues!“. „Aha…“, ein richtiger Einwand fällt Liesel gerade nicht ein und es riecht ja auch gut. So krabbeln sie durch einen Spalt in die Tonne und kriechen schließlich in eine der Plastiktüten, aus der es verführerisch nach Leckereien duftet. „Oh jeee, was ist denn hier los?“ Liesel schaut sich um. „Das habe ich ja noch nie gesehen!“. „Naaa, habe ich dir zu viel versprochen?“ Leo freut sich über die Maßen: „…guck nur, was die Zweibeiner alles nicht mehr haben wollen! Da können wir uns die Bäuchlein vollschlagen und etwas mit nach Hause nehmen.“. „Das riecht total lecker! Nicht schlecht, Leo“, bemerkt Emil anerkennend und beginnt zu naschen.

Die vier futtern sich nun voll und haben sich kleine Päckchen für zu Hause zurechtgeschnitten. Als sie aber wieder nach Hause fliegen wollen, bemerken sie, dass sie den Ausgang nicht finden. „Liesel, wo geht es hier raus?“, fragt nach kurzer Zeit Leo etwas ängstlich. „Auweia, wäre ich nur zu Hause geblieben“, jammert Emil. Ihm schwant Schlimmes. „Emil, das hilft uns jetzt nicht weiter! Wir müssen den Ausgang finden! Reiß’ dich zusammen!“ weist ihn Leo zurecht. „Wir sind ja reingekommen, da wird es auch wieder irgendwo rausgehen!“. Auf der Suche nach dem Ausgang entdecken sie tote Fliegen und andere Insekten, die ebenso von der Nahrung der Zweibeiner angezogen wurden und den Ausgang nicht fanden. „Liesel, Lotti, Leo? Ich glaube, das ist unser Ende!“. Verzweifelt setzt sich Emil auf einen angeknabberten Apfelgriebs und rutscht ab. „So ein Mist…“, beschwert er sich. Vorhin wäre dieser Apfelgriebs irre lecker gewesen, aber jetzt…? „Da sitzen wir ja schlimm im Schlamassel!“, stellt Liesel traurig fest. Leo nimmt Liesels Hand: „Wenn du das sagst, klingt das gar nicht mehr so schlimm.“ Er blickt zu Boden und gesteht den dreien: „Es tut mir sehr leid, dass ich euch in diese Lage gebracht habe! Die Mama wird schimpfen, wenn sie das erfährt…“. „Die Mama würde bestimmt schimpfen und das zu recht! Aber wenn wir nicht mehr wiederkommen… ach Mamilein…“ Liesel fängt nun an zu weinen. „Es ist hoffnungslos! Wenn uns keiner hilft, sind wir genauso mausetot wie die Fliegen hier.“. Liesel lehnt sich an Lotti, alle vier fassen sich bei den Händen und sagen sich gegenseitig, dass sie sich lieb haben. Emil ist inzwischen eingeschlafen. „Emil? Emil, lebst du noch?“ Lotti klatscht Emil auf seine Wangen. „Ich schlafe nur. Das solltet ihr auch tun!“. Mit diesen Worten schließt Emil seine Äugelein wieder. „Wie kannst du jetzt ans Schlafen denken? Wir müssen hier raus!“ Liesel war fest entschlossen, nicht aufzugeben. „Wer aufgibt, hat sowieso verloren! Schon vergessen?“ Mit dem Mut der Verzweiflung versucht Liesel, einen Ausweg aus der misslichen Lage zu finden. „Liesel, lass‘ gut sein…“ Leo seufzt: „…so sieht es also aus, das Ende…“ Er wird langsam müde. Und dunkel ist es obendrein.

Plötzlich wird es hell! Taghell! „Bin ich tot?“ Leo wird putzmunter. „Aber nein! Da sind Zweibeiner!“ antwortet Lotti und rüttelt am Leo. Die Freude ist riesengroß! Endlich naht Rettung. Und tatsächlich: eine Zweibeinerin, nennen wir sie Susann, entdeckt die vier in ihrer verzweifelten Lage und öffnet den Müllbeutel. „Emil, steh‘ auf! Wir sind gerettet!“ Leo zieht an seinem Kumpel. „Was? Wie? Ach sooo? Jaaa!!“ Völlig verdattert guckt Emil und braucht ein bisschen, um sich zu sammeln.

Aber dann konnten die vier und auch andere Insekten, für die die Mülltüte zum Verhängnis wurde, ins Freie und schließlich nach Hause fliegen.

„Leo, ich brauche dir gewiss nicht sagen, dass das eine blöde Idee war!“, schimpft die Mama, als die Kinder erzählten, was passiert war. „Ihr dürft heute nicht mehr raus! Ihr habt Stubenarrest und zwar alle!“, legt die Mama fest. „Was ist Stubenarrest?“, fragt Lotti und ahnt zugleich, dass das sicher nicht gerade toll ist. „Aber warum? Wir wollten etwas zu essen holen, haben uns fürchterlich vertan und wurden zum Glück aber gerettet. Es ist doch alles gut!“ Leo versteht nicht und Lotti und Liesel sowieso nicht. „Ihr bekommt Arrest, weil ich dich, Leo, vorhin extra gefragt habe, ob das gefährlich ist! Du hast mich angeschwindelt und darüber bin ich sehr traurig!“ Sie wendet sich mit strengem Blick an Liesel und Lotti und sagt: „…und weil ihr zwei mitgemacht habt, gilt für euch das gleiche! Und Liesel, von dir hätte ich wirklich mehr erwartet! Du bist schließlich die Große!“ Der Mama stehen Tränen in den Äugelein. „… und jetzt macht ihr bitte eure Hausaufgaben!“ Traurig und auch ganz schön böse auf ihre drei geht die Mama in ihr Stübchen, wenngleich sie froh ist, dass die Kinder heil zu Hause angekommen sind.

Liesel hätte natürlich sagen können, dass sie davon nichts wusste, aber dann hätte sie ihre Geschwister mit der Strafe allein gelassen und irgendwie ja auch verraten. Und ja, sie hätte auch, als sie von dem Vorhaben gewusst hat, mit den dreien nach Hause fliegen können. Mülltüten haben noch nie etwas Gutes für andere Lebewesen, außer dem Menschen, gehabt. Das weiß auch die Liesel. In der Schule haben sie das schließlich gelernt – und wie sie so darüber nachdenkt, weiß sie, dass die Mama Recht hat.

Liesel seufzt und setzt sich auf ein Küchenstühlchen. „Na das haben wir ja super hingekriegt!“, fängt Lotti an und Liesel sagt schließlich: „Wir sollten uns bei der Mama entschuldigen. Und auch bei Emils Mama. Fast wäre ihr Emil nicht mehr dagewesen.“. „Hmmm…“, Leo zieht kleine Kreise mit einem Füßlein auf dem Boden. „Das ist mir aber zu blöd. Und außerdem ändert das bestimmt nichts an der Strafe!“. „Leo, darum geht es doch überhaupt nicht! Wir haben Mist gebaut und unsere Mama sehr verärgert. Das ist doch nicht in Ordnung!“ Liesel redet auf Leo ein und Lotti ist sprachlos. „… und außerdem hast du ein bisschen mehr Zeit, um etwas für die Schule zu tun.“ Leo sieht Liesel fragend an und sie sagt weiter: „…üben meine ich damit! Nutze die Zeit für etwas Sinnvolles. Das wird dir guttun.“ Sie zwinkert ihrem Brüderchen zu. Nun hat auch Lotti ihre Stimme wiedergefunden: „Ja, wir sollten ja Hausaufgaben machen“. „Das machen wir. Aber zuerst gehen wir zur Mama und zu Emils Mama und entschuldigen uns und dann machen wir Hausaufgaben! Ich kann euch ja helfen.“ Liesel geht voran und Lotti und Leo schlürfen mit schlechtem Gewissen hinterher.

„Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass ihr versteht, dass ihr heute nicht rausdürft, weil ihr mich angeschwindelt und euch zu allem Überfluss in große Gefahr gebracht habt. Und ich hoffe, dass das nicht wieder vorkommt!“ Die Mama drückt die drei, denn sie hat sie ja sehr lieb. Lotti löst sich aus der Umarmung und fragt: „Haben wir da gar keinen Stubenarrest mehr?“ „Loootttiiii…!!!“ Mamas Tonfall sagt eindeutig: heute bleibt ihr zu Hause! „Okay, okay…“ sagt Leo etwas traurig. Er weiß ja, dass er auch nicht mit Emil unterwegs sein kann. „Ihr geht jetzt zu Emils Mama und entschuldigt euch und dann macht ihr Hausaufgaben.“. Sie streichelt Leo über seine Wange und lächelt ihm zu.

Die drei haben schon vorher verstanden, warum sie für heute trotzdem nicht aus dem Nest dürfen, aber ein Versuch war es wert – und außerdem kann man diese Zeit sinnvoll nutzen, wie es Liesel schon gesagt hat.

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