Liesels Lotti in Gefahr

Liesel und Lotti waren wieder einmal unterwegs. Aber heute mit ihrem Bruder Leo. Auch er muss lernen, das Leben draußen kennenzulernen. Die Mama kann ja nicht ewig auf den Kleinen aufpassen. Also müssen die großen Geschwister den kleinen Wespen-Jungen mitnehmen und ihm das zeigen, was sie selbst schon können.

Lotti in Gefahr
Lotti in Gefahr

Unsere drei Helden flogen also und quasselten und flogen und quasselten und Lotti hörte Liesel noch sagen: „Pass auf, da steht ein Laternenpfahl…!“ Aber das war zu spät! Lotti klebte am Laternenpfahl. Ihr wurde schwindelig und sie hielt sich am Pfahl fest. Auf dem Feld stand weit und breit nichts, sie hätte überall Platz gehabt, aber ausgerechnet dort, wo unsere Lotti flog, stand so ein Laternenpfahl.

Liesel und Leo flogen auf Höhe der Lotti, die sich nun nicht traute, den Pfahl wieder loszulassen.

„Lass los, Lotti!” rief Liesel.

“Ich kann nicht… Was ist, wenn ich falle??“, jammerte Lotti.

„Lotti, du hast Flügel, schon vergessen? Du bist eine Wespe und keine Katze!“ Katzen wissen ja häufig auch nicht, wie sie von Bäumen wieder runterkommen sollen.

‚Bloß gut bin ich keine Katze. Die fressen ja kleine Wespen… das ist gar nicht schön‘, dachte sich Lotti und klammerte weiter. ‚Loslassen und fliegen? Zwei was zugleich machen? Das kann ich nicht, das kann nur die Mama!‘. Lotti blickte nach unten und ihr wurde schon ganz schlecht.

„Stell dich nicht so an“, brüllte Leo, der kleine Bruder. Die beiden schwebten weiter in der Luft und redeten auf Lotti ein. ‚Ach menno, warum muss mir das immer passieren?‘, jammerte sie.

Liesel war klar: „Die kriegen wir nicht so schnell vom Pfahl“. Aber was tun?

Das ganze Spektakel wurde inzwischen auch von anderen Tieren beobachtet. Sie standen kopfschüttelnd im Gras und alle schnatterten durcheinander. Und es waren viele Tiere. Igel, Regenwürmer, Spinnen, allerlei Käfer, Mäuse und noch mehr.

Der eine rief „Spring!“, die andere brüllte „Lass los!“. Aber das alles hörte Lotti nicht. Sie klebte ja superängstlich an diesem Pfahl. Das hat von den Tieren, die unten standen, auch noch keines erlebt. „Sowas… Ein bisschen schusselig ist sie schon“, sprach ein Igelchen zum anderen. „Hm“, sagte ein anderer.

Bloß gut, dass die drei das nicht hörten. Bestimmt wäre Liesel mit ihrem Stachel vorbeigekommen und hätte es allen gezeigt: das ist meine Schwester und schusselig sind höchstens die anderen! Obwohl sie gewusst hätte, dass es so war. Aber das geht niemanden etwas an!

Auch ein ziemlich großer Vogel sah sich das alles an und überlegte schon, wie er sich die Lotti schnappen könnte – und flog in ihre Richtung. Für solch einen Piepmatz sind kleine Wespen-Kinder nämlich eine Delikatesse – und die lässt er sich nicht so leicht entgehen.

Lotti sah den großen dunklen Vogel auf sich zukommen – und war wie gelähmt. Auch ihre Geschwister sahen ihn und Liesel versuchte, den Vogel mit ganz eifrigem Schlagen ihrer Flügel von der Lotti abzulenken. Sie führte ein fürchterliches Theater auf – aber es funktionierte. Der Vogel guckte nicht mehr zur Lotti.

Leo redete weiterhin auf seine Schwester Lotti ein, die ihre Augen zugemacht hat, damit sie das alles nicht sieht, soviel Angst hatte sie. Leo aber schimpfte: „Lotti, jetzt reiß‘ dich zusammen, sonst enden wir alle im Schnabel von diesem Ungetüm!!“.

Vögel, muss man wissen, sind ja für Wespen-Kinder große und fürchterliche Tiere, die nur eins wollen, nämlich kleine Wespen futtern.

„Maaaammmmaaaa“, rief Lotti verzweifelt.

„Die ist jetzt nicht da, du musst das alleine schaffen“, sprach Leo wieder etwas ruhiger.

„Hallo?? Wie weit seid ihr da drüben?? Ich kann den Vogel bald nicht mehr ablenken!“, rief Liesel und Lotti nahm all ihren Mut zusammen und – ließ sich einfach fallen. Ins hohe Gras. Als wäre es das einfachste auf der Welt. Plumps – und da lag sie am Boden.

Aufmerksam wie sie sind, folgten ihr die Geschwister. Der Vogel äugte nun ganz verdutzt an dem Laternenpfahl auf und ab, denn vergessen hat er ja die kleine Wespe nicht. Aber wo war sie hin? Einfach weg?

Nicht einfach – wenn der wüsste, was unsere Lotti am Laternenpfahl durchgemacht hat. Schrecklich war das!

„Wieso hast du nicht einfach losgelassen?“, fragt Liesel ihre Schwester, die noch immer ganz benommen am Boden lag.

„Ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht“, antwortete Lotti und hielt sich ihr Köpfchen vom ganzen Schwindlig-Sein fest.

„Ach Lottchen, mein liebes Lottchen, ich glaube, wir müssen das mal üben: loslassen und gleich losfliegen. Das ist ganz einfach. Glaub` mir!“. Liesel wollte ihrer Schwester wieder Mut machen.

„Oh ja, wir müssen das ganz unbedingt üben“, bestätigte Leo. „Nochmal sowas überlebe ich nicht“, sagte Leo weiter und verleierte ein bisschen seine Äugelein.

„Das ist mir so peinlich, ich meine, dass ich nicht aufgepasst habe. Immer ist irgendwas bei mir.“ Lotti wurde ganz kleinlaut und auch ein bisschen rot auf ihren kleinen Wangen.

„Ach, das ist doch nicht so schlimm“, winkte Liesel ab. „Immerhin wird es mit dir nie langweilig. Und du wirst immer mein liebes Lottchen sein, ganz egal, was passiert“.

Nun konnte auch Lotti wieder strahlen, auch wenn ihr Köpfchen immer noch brummte.

Die versammelte Tierschar, die das nun alles miterlebt hat und vielleicht auch gespannt war, wer nun gewinnt und ob der Vogel am Ende doch noch die Lotti kriegt, hat sich inzwischen wieder aufgelöst. Jeder ist in eine andere Richtung weggelaufen oder weggeflogen oder weggekrochen.

Manche konnten ja gar nicht hingucken, so schlimm war das. Ein echtes Drama. Sie ahnten schon, dass das bestimmt kein gutes Ende nimmt.

Aber so war es nicht. Es nahm ein gutes Ende. Lotti nahm all ihren Mut zusammen. Auch wenn sie nicht geflogen ist, wusste sie sich im letzten Augenblick zu helfen und ließ sich einfach fallen und hat sich und ihre Geschwister damit vor dem großen Piepmatz gerettet.

Bei so viel Aufregung an einem Nachmittag kann man nur nach Hause fliegen. Nun war nicht mehr daran zu denken, Blütenstaub zu sammeln oder gar leckeren Hackepeter zu ergattern.

Als sie zu Hause ankamen, war die Mama ausgeflogen. Bestimmt war sie auf Futtersuche.

Die drei Wespen-Kinder legten sich in ihre Nestlein und schliefen erschöpft ein.

„Wir müssen es der Mama sagen, bevor sie herausfindet, dass wir gar nichts gesammelt haben“, sagte Lotti, als sie wieder aufgewacht waren. „Wo ist Liesel?“, fragt sie ihren Bruder, der noch ein bisschen verträumt in seinem Nestlein lag. Leo zuckte mit den Flügelchen: „Keine Ahnung“.

Liesel kam zurück ins Kinderzimmerchen und hatte gehört, was Lotti sagte: „Naja, das hat sie schon herausgefunden.“

„Und, war sie traurig, dass wir nichts mitgebracht haben?“, fragte Leo gähnend.

„Ich habe ihr erzählt, was passiert ist und sie hat es verstanden. Sie ist ja heilfroh, dass der Vogel uns nicht gefuttert hat“, antwortete Liesel. Aber so richtig zufrieden ist sie damit nicht, denn sie ist die Große und muss beim Futtersuchen helfen. Das weiß auch Lotti und sagt: „Ich weiß ja, dass ich mehr aufpassen muss, auch wenn ich immer dein Lottchen sein werde. Das ist ja keine Entschuldigung.“ Nach einer kleinen Pause sagte sie weiter: „Ich verspreche, dass ich mehr achtgebe, damit uns das nicht ständig passiert“.

Liesel lächelte ihre kleine Schwester an und sagte: „Lottchen, du wirst trotzdem immer mein Lottchen bleiben“. Lotti lehnte sich an Liesels Schulter und irgendwie war die Welt wieder in Ordnung – für alle drei kleinen Wespen-Kinder.

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