Wer wohnt denn da im Kirchenturm?

Bei einem Rundflug über die benachbarte Streuobstwiese, auf deren Boden in den Spätsommertagen besonders lecker duftende – weil schon gärende – Früchte liegen, sehen Leo und Emil eine kleine Fledermaus, die sich an einem sehr reif gewordenen Früchtlein zu schaffen macht. „Was ist das?“, fragt Leo seinen Kumpel Emil, der darauf jedoch auch keine Antwort weiß. „Hörst du das?“, fragt er weiter. „Nu, sie schmatzt. Es scheint ihr zu schmecken!“, erwidert Emil keck und grinst dabei. Die kleine Fledermaus bemerkt die beiden Wespen-Jungs, aber sie lässt sich nicht ablenken, sondern genießt in vollen Zügen ihr Mahl. Leo und Emil sind vor Begeisterung ganz starr und kommen erst wieder zu sich, als die kleine Fledermaus ein kleines Stück von der Frucht in ihre Krallen nimmt und sich mit ihren Riesenflügeln aufschwingt und in die Abenddämmerung verschwindet.

Leo guckt seine und dann Emils Flügelchen an und stellt fest: „Die hat aber große Flügel. Und so schwarz. Irgendwie unheimlich.“ Emil grinst: „Ich fand sie besonders. So eine schwarze Schönheit.“ Etwas verträumt guckt er hinter ihr her, aber sie ist längst verschwunden. „Schade, dass sie schon weg ist.“ Emil hätte ihr gern noch weiter beim Essen zugeschaut. Da hat Leo eine Idee: „Du, was hältst du davon, wenn wir einfach hinterherfliegen? Sie muss doch hier irgendwo sein.“ Emil weiß nicht so richtig, denn eigentlich müssten sie längst zu Hause sein und das mit dem Fliegen in der Nacht funktioniert bei kleinen und auch bei den großen Wespen nicht so wirklich. Aber augenblicklich wischt er diesen Gedanken beiseite und so fliegen sie in die Richtung, in die auch die kleine Fledermaus flog, bis sie an einem Kirchturm ankommen.

„Hörst du das? Ob das die kleinen schwarzen Kerlchen sind?“. Leo ist sehr neugierig und fliegt auf das geöffnete Fenster des Kirchenturms – und dann fliegen beide hinein – und es wird schwarz um sie. „Ich kann gar nichts sehen!“, beschwert sich Leo und sagt weiter: „Wieso lasse ich mich immer auf solche Dinger mit dir ein?“. „Wieso ich? Du hast doch die Idee gehabt.“ Emil versucht sich zu orientieren, aber das klappt auch nicht so richtig. „Huch, was ist das?“. Es fühlt sich sehr flauschig an – und es schmatzt gefährlich. „Leeeoooo??? Wo sind wir hier?“. Es ist gespenstig dunkel und die beiden Wespen-Jungen wissen genau, dass sie eigentlich gar nicht hier sein dürften, aber die Abenteuerlust sie hierher geführt hat.

„Was machen wir denn jetzt? Ob die uns verschnabbulieren würden?“ Leo mag gar nicht weiterdenken. „Vielleicht schmeckt denen so jemand wie wir gar nicht!“ Emil versucht, sich zu beruhigen – und auch Leo. „Hoffentlich! Mann, Mann, Mann… Die Mama wird warten.“ Da fiel Emil auch seine Mama ein. „Ich muss nachdenken“, fing er plötzlich an. „Aber bei dem Gekreische kann man ja gar nicht klar denken!“. Und wirklich: es ist ein fürchterliches Spektakel in dem Kirchenturm – und das ganz allein von einer Vielzahl von kleinen und großen Fledermäusen, die sich angeregt unterhalten.

„Vielleicht reden die ja über uns und dass sie uns zum Nachtisch futtern wollen?!“. Leo klammert sich an Emil. „Jetzt habe ich`s: Wir müssen uns verstecken. Nach Hause fliegen können wir nicht mehr.“ Leo weiß nicht, ob ihm dieser Gedanke gefällt, aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig: „Na hoffentlich finden die uns nicht doch noch lecker… So mitten in der Nacht. Als Spätstück.“. In einer kleinen Nische, ganz geschützt vor den Blicken der Fledermäuse, richten sie ihr Nachtlager ein und nach einigem Bibbern und Bangen schlafen sie doch ein.

„Leo? Emil? Seid ihr hier?“. Die beiden Jungs krochen aus ihrem Versteck und staunten nicht schlecht. Auf dem kleinen Fensterbrett saßen Liesel und Lotti. „Heee, hier sind wir!!“. Die beiden Jungs winken und freuen sich über die Liesel und die Lotti, wie lange nicht mehr. „Was macht ihr denn hier? Mama ist schon ganz krank aus Sorge.“, fragt Liesel die beiden.

„Ach weißt du, wir waren gestern über die Wiese geflogen und haben da einen riesengroßen Flattermann gesehen. Ganz in schwarz. Und ziemlich gespenstig. Naja, da wollten wir gucken, wohin…“ Leo unterbricht seine Rede und guckt Liesel mit seitlich gelegtem Köpfchen an: „Aber woher wisst ihr, dass wir hier sind?“. „Ein Vögelchen hat uns das gezwitschert!“, antwortete Lotti mit einem breiten Grinsen.

„Welches Vögelchen? Gestern war da kein Vögelchen! Das hätte ich doch gesehen!“, mischt sich Emil ein. „Du, du hättest gar nichts gehen! Du hattest nur Augen für die große schwarze Schönheit!“ Leo spielt sich ein bisschen auf und rekelte seinen kleinen rundlichen Körper wie eine Spirale nach oben und schwingt seine Ärmchen dazu.

„Ja, du brauchst gar nicht so zu tun. Wer hat denn gesagt, dass wir hinterher fliegen?!“, versucht Emil sich zu verteidigen und schaut Leo vorwurfsvoll an. „Und nun siehst du ja, was wir davon hatten. Nichts! Im Gegenteil. Es war kalt und außerdem klebte ich an ihrem Pelz!“.

Liesels Augen wurden immer größer. „Was erzählt ihr denn da? Welcher Flattermann, welche Schönheit, welcher Pelz? Ich kann hier nichts entdecken!“ Und in der Tat: als sich die beiden Jungs umdrehen, war da nichts mehr von Flattermännern und schon gar kein Gekreische mehr zu hören.

„Aber wir schwören! Bei meinem Lieblings-Hackepeter: Die waren hier! Ganz viele! Und wie die geschmatzt haben.“ Leo ekelt es ganz plötzlich und er muss sich auch ein bisschen schütteln. „Ach plötzlich ekelst du dich. Gestern fandst du das noch total spannend!“ Emil bekommt sich nicht mehr ein. „Das ist ja nun egal. Hört auf zu streiten. Wir fliegen jetzt nach Hause!“, sagt Liesel entschieden.

„Okay“, antworten die beiden Jungs fast im Chor und schauen sich nochmals um. „Komisch. Wirklich komisch. Was war denn das da aber?“. Emil versteht nicht so richtig, warum nichts mehr ist wie am Abend zu vor. „Ach, das ist doch nun piepegal. Deine Mama wird auch warten.“, Leo zieht Emil mit sich und alle vier Wespenkinder machen sich auf den Rückweg.

Und wenn man ganz genau hinsieht, leuchten in einer Ecke des Kirchturms ein paar Augen-Paare. Die kleine Fledermaus hat die Unterhaltung natürlich gehört und ihre Flügel aus ihrer eigenen Umarmung gelöst, damit ihr Köpfchen zum Vorschein kommt. Und wie die Fledermäuse alle so eingehüllt von der Decke des Kirchturms herabhängen, sieht man wirklich nur noch schwarz.

Die kleine Fledermaus lächelt und wickelt sich wieder in ihre Flügel ein und kuschelt sich an ihre Mama. Gute Nacht. Wir Flattermänner schlafen jetzt.

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