In Sabines Wohnung…
Nach einer gefühlten Ewigkeit sah Amanda schon von weitem Blaulicht, ohne Sirene versteht sich. Die wäre auch nicht nötig, immerhin ist es bereits nach 23 Uhr und die Leute wollen in ihrer Nachtruhe nicht unnötig gestört werden.
Das Polizeiauto fährt bis zur Haustür. Zwei Beamte und eine weitere Person steigen aus. Amanda streckt sich ein wenig und kann nur vom Fenster der alten Dame aus ahnen, dass es sich eventuell um einen gesetzten älteren Beamten und eine deutlich jüngere, groß gewachsene Beamtin handeln könnte. ‚Der andere Mann könnte jemand vom Schließdienst sein‘, schlussfolgert Amanda, während sie das Fenster öffnet. Durch Winken macht sie sich bemerkbar und bittet die Herrschaften, doch bei der alten Dame – deren Name hier nichts zur Sache tut – zu läuten, damit der Türöffner betätigt werden kann.
Im Treppenhaus kommen nun die drei in einem eher bedächtigen Schritt heraufgestiegen. Das kann man auch verstehen, denn immerhin geht es auf Mitternacht zu.
In diesem Moment öffnet sich eine dritte Wohnungstür, auch auf der 3. Etage. Ein Herr mittleren Alters in seinem schicken gestreiften Pyjama tritt heraus und fragt verwundert: „Ist etwas passiert?“.
„Naja, das wissen wir noch nicht“, antwortet Amanda spontan – und in der Tat, sie wissen es ja noch nicht.
„Guten Aaaaabend“, wünschen die Beamten der sich nun langsam vermehrenden Hausbewohnerzahl. Dieser Tonfall hinterlässt Rückschlüsse, dass sich doch bitte alle wieder in ihre Wohnungen zurückziehen sollen, denn schließlich gibt es hier nichts zu sehen. Vielleicht noch nicht. Wir wissen es ja nicht.
Amanda stellt sich den Beamten vor und erläutert abermals die Situation und lässt keinen Zweifel an der Sorge ihrer Freundin gegenüber.
„Na da woll`n wir ma….“, sagt der Herr vom Schlüsseldienst, nachdem er das Okay zur Wohnungsöffnung durch die Beamten erhalten hat. Die Tür war nicht abgeschlossen.
Die Beamten betreten zuerst die Wohnung und Amanda fragt verwundert: „Wollen Sie nicht ihre Pistole zücken? Nur so für alle Fälle?“.
Die Polizistin dreht sich zu Amanda um und antwortet mit musterndem Blick: „Sie gucken eindeutig zu viel Tatort…“.
Dem kann Amanda nichts entgegensetzen. Sie ist eindeutig Tatort-Fan und auch sämtliche andere Krimiserien im Fernsehen lässt sie nicht aus – und somit fühlt sie sich ein bisschen berufen, die Situation richtig einschätzen zu können, sozusagen als Expertin auf diesem Gebiet.
Vom Wohnungsflur aus befindet sich linkerhand die Küche. Amanda blickt sich um und war reichlich verwundert, dass Sabine solch eine geradezu spartanische Küche besitzt. Dabei sind doch Kochen und Backen – wenn man es denn kann – Lebenselixiere. Essen als solches ein Genuss. `Vielleicht geht sie doch eher auswärts essen, da braucht man natürlich keine Schickimicki-Küche‘ gibt sie sich zu Bedenken.
In dieser Küche befinden sich nun also nur eine einfache Anrichte, eine Spüle, in der noch der Abwasch steht, und ein kleiner quadratischer Tisch mit zwei Stühlen. Auf eben diesem steht Sabines geöffnete Handtasche mit allem Drum und Dran, was Frau eben so braucht, inklusive Wohnungsschlüssel und Papiere und – natürlich dem Handy. Als Amanda reflexartig im Begriff ist, die Handtasche zu nehmen, wird sie von der Polizeibeamtin zurückgehalten: „Nicht ohne Handschuhe!“ Nach einem kurzen Moment überreicht sie Amanda ein paar Wegwerfhandschuhe und stellt richtig fest: „Keine Frau geht ohne ihre Handtasche aus dem Haus, höchstens zur Mülltonne…“. Das war schon sehr merkwürdig.
Kurz darauf hören die drei ein mauzendes Wehklagen und Kratzen an einer Tür. Eingesperrt in der Besenkammer kommt ihnen eine offenbar verwirrte Miez entgegen. Ohne Futter und ohne Wasser musste sie ausharren. Von ihren Hinterlassenschaften ganz zu schweigen.
Aber das ist nicht schlimm, Hauptsache, die Katze ist befreit und den Umständen entsprechend fit.
Amanda kümmert sich nun um die Miez und gibt ihr Futter und Wasser, auf eben dieses sich der getigerte Vierbeiner gierig und ausgehungert stürzt.
Beim Gang durch die Wohnung – und nun ist auch klar, dass Sabine sich in keinen der Räume befindet – fällt Amanda auf, dass sie ihrer Freundin eine so rustikal eingerichtete Wohnung – fast schon wie ein Museum oder ein Antiquariat – nicht zugetraut hätte. Die moderne Sabine in einem Antiquariat zu Hause. Donnerwetter. Jedoch muss man sagen, dass aufgeräumt und staubgewischt anders aussieht. Antiquariat hin oder her. Also kurzum: es wirkt alles recht chaotisch.
Noch immer ratlos und mit kreisenden Gedanken über das Verschwinden ihrer Freundin fragt Amanda die Polizisten: „Was nun?“.
„Sie können eine Vermisstenanzeige aufgeben. Hat Ihre Freundin Familie? Haben Sie Telefonnummern von Freunden?“, fragt die Beamtin.
„Ja, eine Vermisstenanzeige würde ich natürlich aufgeben. Rufnummern habe ich keine. Familie hat sie. Zwei Kinder und einen Ex-Mann. Aber wo die wohnen, weiß ich nicht“, antwortet Amanda reichlich geknickt und bekümmert. Da fällt ihr freudestrahlend ein: „Vielleicht hat sie ja einen Terminkalender und Rufnummern in ihrer Tasche?“
„Fehlanzeige“, ruft der Beamte aus der Küche den beiden zu, die sich im Schlafzimmer befinden. „Heutzutage hat man das doch alles im Handy. Aber da komme ich nicht ran.“, setzt der Beamte seine Aussage fort.
Amanda wird nun zusehends unruhiger. Auch wird sie das Gefühl nicht los, viel zu wenig von ihrer Freundin zu wissen. Warum aber eigentlich? Wie von selbst sagt sie zur Beamtin: „Wissen Sie, Sabine ist so eine unabhängige Frau. Wir sind zwar gut befreundet, ich dachte bis heute sogar sehr gut, aber wenn es das alles so betrachte, habe ich das Gefühl, ich kenne sie gar nicht wirklich. Nicht, dass ich etwas gegen antike Möbel hätte. Und bei mir sieht es manchmal auch schlimm aus, da darf keiner unangemeldet vorbeikommen…“ und setzt nach einer kurzen Pause fort: „Ich dachte ernsthaft, Sabine braucht niemanden. Sie ist taff und meistert ihr Leben. Aber irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass es eben nicht so ist.“.
„Ja“, seufzt die Beamtin, „das hören wir zur Genüge…“. Sie unterbricht das Schreiben ihres Protokolls, schaut zu Amanda auf und ihr eindringlich in die Augen: „Jeder Mensch braucht jemanden, dem er vertrauen kann. Bedingungslos. Von dem er alles weiß.“ und setzt, während sie sich wieder ihrer Protokollarbeit widmet, fort: „Aber leider ist es so: Jeder hat mit sich zu tun. Man verbringt Zeit miteinander und redet, aber eigentlich wird nichts gesagt. Das ist schon bedauerlich“ – und wiegt ihren blonden Schopf ein wenig hin und her. Als sie fertig ist mit ihrem Protokollschreiben, wendet sie sich wieder Amanda zu: „Kommen Sie morgen ins Präsidium, damit wir die Vermisstenanzeige aufnehmen können. Vielleicht können Sie sich so lange, bis wir etwas herausgefunden haben, um die Katze kümmern? Das wäre sicher im Sinne ihrer Freundin.“
Ja richtig, die Katze. Sie schleicht um Amandas Beine und schnurrt. Ohhh, wenn man nur die Sprache der Tiere verstünde – die Miez weiß bestimmt, was passiert ist.
„Und sie hat Ihnen gegenüber nichts erwähnt? Hat sie Ärger mit Hausbewohnern oder mit ihrem Ex-Mann?“, fragt die Beamtin weiter.
„Nein, davon hat sie nichts gesagt“. Amanda ist ratlos und zuckt mit ihren schmalen Schultern. „Obwohl, Moment: sie erwähnte einen Mann in ihrer Nachbarschaft, der sie beobachtet und der sei komisch“, fällt ihr plötzlich wieder ein.
„Wie komisch? Wissen Sie, wie er aussieht oder vielleicht sogar wie er heißt?“, bohrt die Beamtin nun schließlich weiter nach. Amanda schüttelt mit dem Kopf. Natürlich weiß sie das nicht. Woher auch? Sie hatten sich nur über den Mann als solchen unterhalten, aber mehr?! Was würde es überhaupt nützen, wenn sie wüsste, wie er aussieht. Solange sie ihn nicht selbst gesehen hat, kann man ja wenig machen – von wegen Phantomzeichnung und dergleichen.
„Nun ja, hier können wir erst mal nichts weiter machen. Wir fassen auch nicht weiter an. Ich gebe den Kollegen morgen Bescheid, dass sie sich das hier noch mal alles genauer ansehen und vielleicht finden wir ja einen Hinweis auf den Verbleib ihrer Freundin?!“, tröstet die Polizistin.
„Es bleibt uns ja nichts anderes übrig, als abzuwarten, wenn ich das richtig verstanden habe“, resümiert Amanda. Nun, was wöllte sie auch tun?! Und mitten in der Nacht? Nachts sind alle Katzen grau, wie es so schön heißt… Sie sucht also nach einem Transportkorb für die Katze und packt auch das Futter ein. Am besten alles, was da ist, man weiß ja nicht, wie lange sich die ganze Geschichte hinzieht.
Beinahe freiwillig geht die Katze in den Korb, ganz so, als wöllte sie weg von diesem Ort. Die nötigen Sachen sind gepackt. Alles startklar, es kann losgehen.
„Was machen wir mit dem Schlüssel?“, fragt Amanda.
„Wir hinterlegen Ihrer Freundin eine Nachricht, dass sie sich bei uns melden muss, so sie wieder auftaucht. Vorausgesetzt, sie kommt in ihre Wohnung. Die schließen wir aber ab und nehmen den Schlüssel mit, damit die Kollegen sich morgen Zutritt verschaffen können. Hier drin nützt der Schlüssel sowieso nichts. Außerdem wissen wir ja noch nicht, ob sie freiwillig die Wohnung verlassen hat, entführt wurde oder ob das hier ein Tatort ist. Darum kümmern sich die Kollegen bei Tageslicht.“
Bei Tageslicht… ja, bei Tageslicht betrachtet wirkt ohnehin einiges anders als vermutet. Das wurde Amanda an diesem Tag einmal mehr bewusst.
Mit dem Wissen, nichts zu wissen, fährt Amanda nun wieder nach Hause. Sicher, dass Sabine nicht in der Wohnung liegt und womöglich tot oder verletzt ist, ist auch Wissen. Wäre es Amanda lieber gewesen, sie hätten Sabine gefunden? Ganz gleich wie und in welchem Zustand? Wer weiß, wo sie sich befindet. Vielleicht liegt sie irgendwo und wird gefangen gehalten. Aber warum? Erpressung? Hat vielleicht doch der seltsame Mann seine Finger im Spiel? Oder der Ex-Mann? Man hört ja immer wieder von solchen Geschichten. Aber das weiß Amanda nicht, denn darüber haben sie sich nie ausgetauscht.
Sie wird also das Gefühl nicht los, dass Sabine etwas zugestoßen sein muss – denn niemals hätte sie ihre Katze eingesperrt und schon gar nicht ohne Futter und Wasser. Die geneigte Leserschaft kann das sicherlich gut verstehen.
Mit einem tiefen Seufzer und einem Schmunzeln sieht Amanda auf die Transportbox mit der Miez drin und freut sich ein wenig, dass sie zumindest ihr das Leben gerettet hat. Eigentlich macht sich Amanda nicht viel aus Tieren und Haustiere hatte sie nie gehabt. Aber das spielt keine Rolle. Schon das Gefühl zu haben, das Richtige zu tun, ist unbezahlbar.