Als an einem Nachmittag, und es war ein schöner warmer Sommernachmittag, Liesel mit ihrer Beute nach Hause fliegen wollte, passiert ihr das, was sonst eigentlich ja nur Lotti passiert: Liesel verliert Futter. „Das ist ja wohl die Höhe“, schimpft Liesel über sich selbst, und möchte ihr Stückchen Fleisch retten. Sie fliegt also auf den Erdboden und sucht. „Wo habe ich es denn bloß fallenlassen?“. Sie sucht und ärgert sich mächtig über sich – und verliert dabei den Sinn für alles, was um sie herum passiert.
Das aber bemerkt eine Katze und legt sich auf die Lauer. So eine kleine Wespe ist zwar nur ein Appetithäppchen, aber immerhin, und sie freut sich über ihre Fast-Bald-Beute. Ein kleines Pfützlein auf der Zunge der Miezekatze ist auch schon da… Liesel blickt auf einmal auf und – oh weh, oh Schreck – eine Miez! Liesel reißt die Augen auf, rollt sie nach hinten, wird starr – und fällt um. Plumps. Wie ein Sack. Das ist nun allerdings blöd für solch ein Wespen-Kind, denn sie muss ja reißausnehmen oder eben wegfliegen, aber nicht ohnmächtig werden. Das ist DIE Chance für die Miezekatze – sie setzt siegessicher an – und – auaaaaa, was war das? Verwirrt guckt sie sich um. Hä???
Und da war sie – Lotti, unsere kleine schusselige Lotti, pickst todesmutig der Miezekatze in die Nase. Klar, Lotti hatte mächtig Angst vor der Katze, aber ihre Schwester lag dort. Und eine Katze gegen ihre Schwester?! Das geht eindeutig zu weit! Sie schwirrt über der Miez und droht weiter mit ihrem Stachel. „Du kannst noch mehr davon haben, olle Mieze! Komm‘ nur her!“. Lotti hatte eigentlich mehr Angst als alles andere, aber sie war tapfer. Für ihre Schwester. Die Katze ihrerseits hält sich vor Schreck und Schmerz die Nase. Jetzt ist ihr der Appetit auf kleine Wespen-Kinder gründlich vergangen. Sie trollt sich – und Lotti freut sich über ihren Sieg.
„Super, Katze in die Flucht geschlagen!“. Sie beugt sich über ihre Liesel und tätschelt ihr links und rechts auf die Wange und beäugt die Liesel ganz genau. ‚Ob sie wohl wieder zu sich kommt?‘ fragt sich die kleine Lotti. „He, Liesel, los, steh‘ auf, die olle Miez ist fort“, sagt sie aufmunternd. Aber Liesel zuckt sich nicht. „Ojemine“ jammert Lotti „wir sind fast zu Hause und dann so ein Schlamassel. Was mache ich jetzt bloß?“. Sie schaut um sich her, aber keiner fliegt herum, der ihr helfen kann. Irgendwie ist in der letzten Zeit in der Flugwelt der kleinen Insekten ganz schön Ruhe eingezogen. Geradezu gespenstig. Trotzdem fragt sie sich verzweifelt: ‚Wo sind die denn alle hin, wenn man sie mal braucht?‘. Sie wusste ganz genau, dass sie ihre Schwester nicht allein lassen kann. Und wenn keiner da ist, müsste sie eigentlich Hilfe holen. Wie soll das gehen? Zerteilen kann sie sich nicht. Das kann niemand. Aber wenn jetzt kein kleines Wunder passiert, steht es schlecht um ihre Liesel, soviel ist sicher.
Wie es der Zufall will, kommt ihr Bruder Leo vorbeigeflogen, summt durch die Gegend und freut sich seines Lebens. Da sieht er zwei Wespen-Kinder am Boden liegen. Von der Ferne war das noch nicht so richtig auszumachen. ‚Kenne ich die?‘ fragt er sich. Dann traut er seinen Augen kaum. ‚Liesel und Lotti? Was ist da bloß wieder los?‘ – sind seine Gedanken. Schnurstracks fliegt er zu ihnen. Lotti erzählt ganz aufgeregt, was passiert ist. Nun sind beide ratlos, blicken sich traurig an und lassen ihre Fühler hängen. Glücklicherweise kommt nach und nach Liesel wieder zu sich und blinzelt die beiden verdutzt an. „Was ist passiert?“ Sie blickt suchend um sich: „Und wo ist überhaupt meine Beute?“. Da mussten Lotti und Leo lachen – sie waren sehr froh, dass es Liesel wieder gut ging. Wer nach so einem Schreck gleich nach dem Essen fragen kann, dem kann es schließlich nicht schlecht gehen. Das Stückchen Leckerei haben sie zwar nicht mehr gefunden, Liesel wusste ja auch nicht mehr, wo genau sie es nun verloren hatte, aber zum Suchen war nun schon zu spät. Der Tag ist vorangeschritten, im Osten dämmerte es schon langsam und wie wir wissen und gelernt haben, müssen kleine Wespen vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein. Also machten sie sich gemeinsam auf den Heimweg.
Auch wenn Liesel heute kein Futter mit nach Hause gebracht hat, war sie doch heilfroh, dass sie den Angriff der Miezekatze so gut überstanden hat. Sie weiß, dass sie das ohne Unterstützung ihrer tapferen kleinen Schwester sicher nicht geschafft hätte. Aber auch, dass sie eigentlich hätte auf Lotti aufpassen müssen und nicht umgekehrt. Die Mama ermahnt sie ständig, auf Lotti aufzupassen, eben weil sie so ein bisschen schusselig und bestimmt eine leichte Beute für andere ist.
Aber heute, heute war Lotti alles andere als schusselig. Sie hat alles gegeben, was man geben kann. Und das weiß auch Liesel.
„Du hör‘ mal, Lotti“ sagte Liesel leise zu Lotti und kreiselte ein bisschen mit ihren Beinchen auf dem weichen Fußboden ihres Nestes, „habe ich dir schon mal gesagt, dass ich ganz stolz auf dich bin? Du hast dich heute selbst in Gefahr gebracht, nur um mir zu helfen. Das ist nicht selbstverständlich. Die Miezekatze hätte uns beide verschnabulieren können.“.
Energisch protestierte Lotti und erwiderte: „Nein, Liesel, das ist selbstverständlich! Das macht man so in einer Familie. Wir sind doch immer füreinander da.“. Und dann setzte sie mit Stolz erhobenem Köpfchen und einem bestimmten Nicken ihren Satz fort: „Dafür wurde sie ja schließlich erfunden“ – und grinste. Liesel nahm ihre kleine Schwester in die Ärmchen und gab ihr einen dicken Schmatzer. „Den hast du dir reichlich verdient“ sagte sie und lächelte Lotti an.
Nun wollte Liesel aber ganz genau wissen, was passiert ist. Sie war ja schließlich ohnmächtig geworden und hat das Drama gar nicht mehr mitgekriegt. So erzählte Lotti von dem kräftigen Picks, den sie der Miezekatze verpasst hat und den die bestimmt nicht so schnell vergessen wird. Da mussten beide lachen.
Hach, das war vielleicht ein aufregender Tag. An einem Nachmittag haben die beiden mehr erlebt, als manches Mal an zwei Tagen zusammen.
Und wer weiß, was morgen wieder sein wird. Langweilig wird es jedenfalls nicht, soviel haben wir schon mitgekriegt.
Für heute geht es erst einmal ins Bett, denn die Aufregung muss ja gründlich überschlafen werden. Bestimmt träumen die beiden heute Nacht von einer Miezekatze und wie sie sie in die Flucht schlagen – die beiden Schwesterherzen.
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