Liesel – Tote Fliegen können soooo lecker sein – eine echte Delikatesse

Das Jahr geht ins Land – der Herbst steht vor der Tür – und besonders für die Tierwelt ist das eine harte Zeit. Kluge Wespen müssen sich jetzt für den Winter bevorraten, also muss die Vorratskammer zu Hause aufgefüllt werden. So ein Winter kann ganz schön lange dauern. Außerdem ist die Mama schwanger und braucht ganz viel leckeres Essen, damit die neuen Geschwister kräftig auf die Welt kommen.

So fliegen Liesel und ihre kleine Schwester Lotti, die sich schon ganz gut in der Nahrungsbeschaffung macht, über Wiesen und Felder, Stock und Stein und waren guter Dinge. Sie flogen Saltos und drehten Pirouetten und spielten Hascher in der Luft. Bei all dem Spaß durften sie natürlich nicht vergessen, warum sie unterwegs waren. Die Mission hieß: Futtersuche – und nicht Spielen und Herumtollen. Liesel hörte es förmlich von ihrer Mama im Ohr, obwohl die ja zu Hause war. Das ist vielleicht komisch…

Auf einmal, da in einer Steinecke, lag etwas Dunkles. „Guck‘ mal, Lotti, könnte das eine Summsi sein?“, fragte Liesel und zeigte mit einem Fühler auf dieses schwarze Etwas. „Keine Ahnung, schauen wir nach“, antwortete Lotti und flog ihrer Schwester voraus zum Objekt der Begierde. In respektvollem Abstand landeten sie vor diesem komischen Schwarzen und liefen dem vorsichtig entgegen. „Was ist das?“, flüsterte Lotti. Liesel zuckte mit ihren Flügelchen, nahm aber all ihren Mut zusammen, ging weiter auf das Ding zu und sagte zur Lotti: „Es ist eine Summsi“.

„Ist sie tot?“ fragt Lotti in immer noch sicherer Entfernung. „Keine Ahnung“, antwortete Liesel und stupste die Fliege mit ihren Fühlern ganz vorsichtig an. „Sie zuckt sich nicht. Die ist futsch – und unsere Beute“ freute sich Liesel. Das war schon ein ganz schöner Fliegen-Brummer, der da lag. Die beiden Wesplein konnten kaum über diesen Brummer hinwegsehen.

Diese Begebenheit blieb nicht unbeobachtet. Von einem Steinhaufen aus wurden sie genau beobachtet. Als Liesel ihren letzten Satz gesprochen hatte, erschien aus der Ecke ein achtbeiniges behaartes Spinnentier mit ganz vielen grimmigen Augen. Die hatte es natürlich auch auf den fetten Brummer abgesehen. Das ist eine leckere Speise, auch für Spinnen. Und für Spinnen-Mamas, wie sie eine war und viele hungrige Spinnen-Babymäuler zu füttern hatte, sowieso. Sie konnte also den beiden Wespen-Kindern nicht einfach so diese fette Beute überlassen. Und überhaupt, wo kommen wir denn hin, wenn sich Kinder einfach so eine dicke fette Fliege teilen und verschnabulieren? Das wäre neu – das geht auch einer Spinne zu weit.

So ging also Mama Spinne auf die tote Fliege zu. Liesel beäugte noch immer diese fette Beute und freute sich, aber Lotti in sicherer Entfernung sah dieses Spinnentier auf ihre Schwester oder auch die fette Fliege zukommen. Lotti ging ein Stück auf Liesel zu, nur soweit, dass sie sie an einem Hinterbeinchen erwischen konnte und zog vorsichtig daran. „Liesel, heb‘ mal vorsichtig deinen Kopf. Siehst du das gleiche wie ich?“. Himmel – eine Spinne! Und was für eine!! Und die sah sehr kampfeslustig und aus. „Guck‘  mal, wie die schon guckt. Ganz gierig“, mahnte Lotti und mochte gar nicht hinsehen. „Es findet sich etwas anderes. Wir müssen weg von hier“ bettelte sie ihre Schwester an und zog weiter ungeduldig an Liesels Beinchen. „Aber nicht ohne unsere Beute“ antwortete siegessicher unsere Liesel.

„Die frisst uns mit Haut und Haar und Flügel und Fühler zum Nachtisch“, jammerte Lotti.

„Lass‘  mich los, Lotti! Das wäre ja noch schöner! Wir fliegen nicht, ohne unsere Beute. Das kommt gar nicht infrage“. Irgendwie hörte sie ihre Oma das sagen. Manchmal hört man einfach die Mama oder die Oma im Ohr, obwohl sie gar nicht da sind. Das ist auch gut so. Sie kennen sich im Leben aus und geben alles mit, was man so braucht, auch, damit man nicht leichtsinnig wird – das gilt nicht nur für Menschenkinder, sondern auch für kleine Wespen.

Liesel war sich sicher, dass sie den Kampf mit der Spinne aufnehmen würde – für den Wintervorrat. Sie hat schon ein tapferes Herz, unsere kleine Liesel. Aber allein? Kann sie das schaffen? Lotti ist offenbar zu schwach und der Ohnmacht nahe.

Und als ob Lotti die Gedanken ihrer Schwester erahnen konnte, nahm sie allen Mut zusammen, preschte nach vorn und zog mit Liesel gemeinsam an der Fliege. „Oh je, ist die aber schwer, die kriegen wir niemals weg“, pustete Lotti und musste sich erstmal hinsetzen. „Ach Papperlapapp, die filetieren wir.“ Aber die Spinnen-Mama dachte ja gar nicht daran, den beiden Wespen den fetten Fliegenbrummer zu überlassen. Auch sie war sich ihrer Sache sicher und richtete ihre Vorderläufe auf – in Kampfposition! Und ihre Zähnchen – eigentlich waren es schon richtige kleine Zangen – gingen auf und zu und auf und zu…

Eigentlich mochte Lotti gar nicht hingucken, denn die Spinnen-Mama kam immer näher. Sie war der Ohnmacht nahe. ‚Reiß dich zusammen, das nützt alles nichts‘, sagte sie sich aufmunternd. Mit vereinten Kräften zogen die beiden Schwestern an der Fliege.

„So wird das nichts“, sagte Liesel schließlich. „Wir müssen wohl den Stachel ausfahren!“

„Willst du die Spinnen-Mama tot machen?“ fragte Lotti und wusste nicht, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte. „Ach, wo denkst du hin?“ antwortete Liesel, noch immer siegesgewiss. „Die wird abhauen, wenn wir unsere Stachel zeigen. Wirst sehen!“ Liesel weiß nämlich, dass Tiermamas besonders auf sich achtgeben müssen, denn sonst wäre der Nachwuchs in Gefahr. Und das will keine Mama. Auch die Spinnen-Mama weiß das und zog sich langsam zurück, als die beiden Schwestern über ihr schwebend mit dem Stachel drohen und ihr gefährlich nahe kommen.

„Hurra!“ freuten sich die beiden, „geschafft! Im Team sind wir doch am besten, nicht wahr, Liesel?!“ fragte Lotti und kannte schon die Antwort – und grinste obendrein.

Etwas ratlos und angesichts der fetten Beute fragte Liesel: „Tja, und nun? Was machen wir mit dem Brummer? Sooo kriegen wir den nie weg! Aber wir müssen uns beeilen, bevor es sich die Spinnen-Mama noch mal anders überlegt.“

„Du, Liesel, ich traue mir gar nicht zu sagen, dass ich Fliegen gar nicht mag. Die sind sooo eklig.“ Angewidert guckte Lotti diesen ganz schön toten Brummer an. „Der ist wirklich mausetot? Bist du dir sicher?“ fragte Lotti, um sich zu vergewissern. Auch sie weiß, dass sich manche Tiere totstellen, damit sie überleben, denn der Feind lässt dann möglicherweise von ihnen ab, weil er das Interesse verliert.

Liesel verleierte innerlich die Augen und sagte dann aber wohlwissend und eindringlich: „Lotti, das wird dein erster Winter werden und du wirst froh sein, wenn du solch eine Delikatesse zum Essen hast. Das gibt es auch für uns Wespen nicht jeden Tag“. Liesel hatte schon den ersten Winter hinter sich und weiß, dass es hart werden kann, wenn die Vorratskammer nicht gut gefüllt ist. Und so ein Winter kann rasch über die Welt kommen, da hat man keine Zeit mehr zum Wählen, welche Nahrung einem nun am besten schmeckt. Da wird gegessen, was die Mama auf das Tischlein stellt – und es hat gefälligst auch zu schmecken.

Kurze Zeit später musste Liesel allerdings wieder schmunzeln, stupste Lotti mit ihrem Vorderbeinchen leicht an und sagte: „Natürlich kann dich keiner zwingen, die Fliege zu essen. Da bleibt mehr für uns übrig“ – und grinste mit einem Augenzwinkern. „Obgleich ich tote Fliegen toootaaaal lecker finde“, setzte sie ihren Satz fort.

Lotti zuckte mit ihren Flügelchen und sagte fast gelangweilt und überhaupt nicht überzeugt von Liesels Worten: „Auch wenn ich die nicht essen mag, ich helfe dir natürlich, sie nach Hause zu bringen“. Schließlich haben alle im Winter Hunger – und tote Fliegen sind dann für alle eine Delikatesse. Das versteht Lotti spätestens dann, wenn die Zeit gekommen ist.

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