Nachdem das Passagierschiff –
Fahrt aufgenommen hat mit Kurs auf Skandinavien, beschließt Amalia, sich zunächst zu erfrischen und ihre Haare wieder zu richten, um sich anschließend das Schiff mit den zahlreichen Restaurants, all seinen Attraktionen und diversen Shoppingangeboten genauer anzusehen. Amalia benötigt dringend etwas Kleidung, denn in der Eile des Aufbruchs konnte sie nur noch das Nötigste in ihr kleines Reiseköfferchen packen. Bis zu ihrem Zielhafen wird sie ein paar Tage auf diesem Schiff verbringen und sollte sich – auch für den Notfall – auskennen. Zunächst möchte sie jedoch eines der Restaurants aufsuchen, denn mit einem leeren Magen lässt es sich nicht gut shoppen.
„Jungfernfahrt“ – entfährt es ihr leise, als sie aus ihrer Luxuskabine den mit Teppichen ausgelegten Flur in Richtung Aufzug langsam entlangläuft. ‚Ja, das hatte mal ein ganz furchtbares Ende genommen, solch eine Jungfernfahrt‘, fällt ihr seufzend ein. Umso wichtiger erscheint es ihr, sich zu informieren, was im Falle einer Katastrophe zu tun sei. ‚Hoffentlich gibt es genügend Beiboote…?‘, fragt sie sich skeptisch. ‚Das wäre furchtbar…‘ – Amalia schüttelt den Kopf, ganz so, als ob sie jeden Gedanken an eine weitere Katastrophe in ihrem Leben nicht mehr ertragen kann. ‚Wir werden bestimmt noch von der Mannschaft instruiert, was wir im Falle der Fälle machen müssen…‘ beruhigt sie sich – und kommt am Aufzug an.
„Bing!“ mit diesem Geräusch öffnet sich der Aufzug. In eben diesem steht – lässig in der Ecke der Haltestange angelehnt – ein junger und geradezu edel wirkender Mann im feinen Zwirn, der Amalia mit einem freundlichen „Hallo“ kopfnickend begrüßt. Amalia betritt den Aufzug und erwidert kurz seine Begrüßung. Sie blickt auf die Armatur des Aufzugs und bemerkt, dass der junge Mann offensichtlich auch das Bedürfnis hat, dem Restaurant einen Besuch abzustatten. Amalia dreht sich um und bleibt diagonal von diesem Herrn mit Blick zur Aufzugstür stehen. Im Augenwinkel bemerkt sie, dass er sie beobachtet, was ihr jedoch sehr unangenehm ist.
Im Restaurant angekommen fallen Amalia die geschmackvoll dekorierten Tische auf. Überhaupt wirkt der ganze Speiseraum sehr edel.
Amalia nimmt sich einen Teller und bedient sich am Büfett, bevor sie an einem der Tische Platz nimmt. Der Blick durch das Panoramafenster hinaus auf das offene Meer tut ihrer Seele gut und sie genießt gedankenverloren die Einsamkeit inmitten der zahlreichen Passagiere, dem Stimmengewimmel und dem Klimpern des Geschirrs und Bestecks.
„Entschuldigen Sie…“ Amalia wird aus ihrem Tagtraum gerissen und blickt erschrocken auf. Der junge Mann aus dem Aufzug steht neben ihr und in seiner Hand hält er ein Dessert.
„…darf ich?“, fragt er Amalia freundlich und deutet auf einen der leeren Stühle.
Etwas überrumpelt entgegnet sie: „Ja, natürlich…“ und bietet ihm einen Sitzplatz an. Der junge Mann nimmt Platz und beginnt einen Smalltalk: „Darf ich fragen, ob Sie allein reisen? Und wohin?“
Amalia schaut ihn an und danach auf das Meer. „Ein toller Blick, nicht wahr? Das Meer glitzert, als wäre es voller Diamanten, dabei ist es nur die Sonne, die es so einzigartig aussehen lässt…“, bemerkt er, bevor ihm einfällt: „Oh, entschuldigen Sie, wenn ich mich vorstellen darf: mein Name ist Carsten.“
Amalia blickt ihn wieder an, wobei ihr seine fein gezeichneten Gesichtskonturen, seine dunkelblauen Augen und sein dunkles Haar auffallen. Während der flüchtigen Begegnung im Aufzug hatte sie diese Einzelheiten gar nicht bemerkt. Nach kurzer Überlegung stellt sie sich mit „Anna…“ vor und lächelt. Sie hatte sich bislang gar keine Gedanken über ihre Identität gemacht, was sie sagen wolle, wenn sie jemand nach ihrem Namen fragt. Zu plötzlich kam die Abreise. So ist ihr spontan der Name „Anna“ eingefallen, so wie ihre Oma hieß.
„Sehr erfreut…“, Carsten lächelt zurück und genießt sein Dessert. „Mmmh! Das ist wirklich lecker, sollten Sie auch mal probieren!“ bemerkt er und hebt dabei sein Dessertglas an, um es in der Höhe im Sonnenschein zu betrachten.
„Ja, sieht zumindest gut aus. Vielleicht probiere ich es morgen“ antwortet sie lächelnd.
„Und, reisen Sie allein?“ hakt Carsten mit einem Lächeln nochmals nach.
„Ähm, ja…“ antwortet Amalia nickend, mit einer kleinen Runzelfalte auf der Stirn.
„Und wohin, wenn ich Sie das fragen darf?“ fragt er weiter.
Amalia schaut ihn an, wobei sie nicht weiß, ob sie einem Fremden trauen kann und sollte, obgleich er den Eindruck eines Herrn der „alten Schule“ und einen integren Eindruck macht. So gibt sie einen Hafen an, der weiter entfernt liegt als jener, an dem sie auszusteigen gedenkt.
Nach einer kurzen belanglosen Unterhaltung steht Amalia mit den Worten „…Sie entschuldigen mich bitte“ vom Tisch auf, woraufhin sich Carsten ebenfalls erhebt und sich beide mit einem Händedruck eine angenehme Reise wünschen. Als Amalia im Weggehen begriffen ist, fragt Carsten: „Vielleicht sehe ich Sie ja noch mal wieder?“. In seinen Worten, seinen Augen spiegelt sich ein Funken Hoffnung wider.
„Ganz gewiss. Hier geht man ja nicht verloren…“ antwortet Amalia mit einem Lächeln.
Die Tage auf dem Luxusliner vergehen, ohne dass sich Carsten und Amalia nochmals begegnet wären. Sich aus dem Weg zu gehen, ob beabsichtigt oder nicht, ist auf solch einem großen Schiff kein Problem.
Unterdessen wird Amalia als elegante Alleinreisende und offenbar gut betuchte junge Dame von den anderen Passagieren und der Crew wahrgenommen und der eine oder die andere fragt sich bereits „Wer ist die junge Frau aus der Luxussuite?“ Mit ihrer angenehmen Körpergröße, ihren blonden langen Haaren, ihren grünen Augen und der etwas sonnengebräunten Haut ist sie zweifelsohne eine hübsche Erscheinung. Über dies hinaus ist Amalia eine humorvolle junge Frau, die das Leben liebt und genießt – zumindest bis zu jenem furchtbaren Tag, als ihr Mann zu Tode kam. Sie hatte ihr ganzes Leben auf ihn eingestellt, das machte ihr nichts aus. Beide waren unzertrennlich und nichts passierte ohne einander.
Und nun? Nach wenigen Wochen ist nichts mehr von alldem übrig, das einst ihr Leben so besonders gemacht hatte. Nicht nur für sich, sondern auch für die anderen, war ihr Lebensstil spektakulär. Amalia und ihr Mann verbargen ihren Reichtum nicht, sie hatten ein beachtliches Vermögen aufgebaut und waren großzügig gegenüber liebgewonnen Menschen. Doch nun, nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes – einem Kunsthändler – war sie als Alleinerbin eines millionenschweren Vermögens testamentarisch eingesetzt. Aber wie sie erfahren sollte, wird dieses angefochten, von Menschen, denen sie einst vertraute. Noch mehr – sie musste ihre Heimat verlassen.